Jüdische Sozialist*innen und die Arbeiterbewegung: Eine vergessene Allianz?

Als Joseph Berkowitz Kohn 1905 in Hamburg starb, würdigte ihn ein Nachruf im sozialdemokratischen „Hamburger Echo“ als verdienten und vertrauenswürdigen Genossen dem nicht nur die liebende Familie, sondern auch die Erfolge der Arbeiterbewegung das Leben erhellt hätten. Als meinungsstarkes Parteimitglied und Aufsichtsratsmitglied des Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ war er der Hamburger Arbeiterschaft wohlbekannt. Zu Grabe getragen wurde Berkowitz Kohn auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf, geleitet von Größen der damaligen Partei unter einer trauerbeflorten roten Fahne.
Wenige Jahre später wurde 1908 Olga Benario in eine sozialdemokratische jüdische Münchener Familie geboren. Sie engagierte sich in den 1920er Jahren bei der Kommunistischen Jugend in Berlin-Neukölln. 1928 floh sie in die Sowjetunion, wo sie Agentin der Komintern wurde. In ihrem Auftrag wurde Benario nach Paris und London und schließlich nach Rio de Janeiro entsandt. Nach einem gescheiterten Aufstand unter der Führung ihres Ehemanns lieferte Brasilien Benario an Nazideutschland aus. Im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße gebar sie die gemeinsame Tochter, wurde in das KZ Ravensbrück überführt und 1942 mit anderen Häftlingen in Bernburg ermordet. Von den Nazis wurde Benario als „Stalins Agentin“ geschmäht, ihre Erinnerung an den Kampf um Befreiung jedoch in Brasilien und der DDR aufrechterhalten – und auch heute noch dient sie als ikonische Revolutionärin.
1982, ein halbes Jahrhundert später wurde in Maputo, Mosambik, Ruth First von einer Briefbombe, die der südafrikanische Geheimdienst gesandt hatte, aus dem Leben gerissen. Im Nachruf gab die Südafrikanische Kommunistische Partei den Grund für die Ermordung an: ihren Kommunismus, der die völlige Hingabe zur Befreiung der Bevölkerungsmehrheit von der Apartheidherrschaft und ihr Vertrauen in die Fähigkeit der normalen Menschen, sich selbst zu befreien. Ausdruck des Knotenpunkts, den die SACP spiele, drücke sich in der Symbiose von Firsts Leben und Aktivismus und der Befreiungsbewegung aus. Ihre Anteilnahme drückten 3.000 Menschen bei der Beerdigung aus, bei der Ruth First nahe bei 13 ihrer zuvor ermordeten Genossen gebettet wurde.
Kann eine Linie über Zeit und Raum gezogen werden, die Berkowitz Kohn, Benario und First verbindet? Sicherlich waren sie für fast einhundert Jahre nicht die einzigen jüdischen Genoss*innen. Denn gemessen am Bevölkerungsanteil waren Jüdinnen und Juden im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit überproportional in den revolutionären und sozialreformerischen Bewegungen in allen Teilen der Welt aktiv. Kann es eine Antwort geben auf die Frage, welche Rolle dabei ihre jüdische Herkunft für sie spielte? Welche Motivation und welche Erfahrung trieben Kohn Berkowitz, Benario und First an? Welche Relevanz hatten sie jeweils und welche Spuren hinterließen sie? Und welches Erbe haben sie, stellvertretend für eine Vielzahl jüdischer Genoss*innen, hinterlassen, an das angeknüpft werden könnte?
Unter diesen und weiteren Fragestellungen diskutieren Prof. Dr. Gertrud Pickhan (Berlin), Prof. Dr. Christopher Kopper (Bielefeld) und Dr. Hanno Plass (Hamburg)
Begrüßung: Dr. Kim Wünschmann, Institut für die Geschichte der deutschen Juden
Moderation: Dr. Florian Weis, Historiker, Rosa-Luxemburg-Stiftung
Gertrud Pickhan, bis 2021 Professorin für die Geschichte Ostmitteleuropas am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Zuvor Stationen am Deutschen Historischen Institut Warschau, am Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig und an der TU Dresden. Sie forschte und publizierte unter anderem über den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund „Bund“, über russischen Nationalismus im 19. Und 20. Jahrhundert, ostjüdische Migranten im Berlin der Weimarer Republik und jüdische Jazzmusiker zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus.
Christopher Kopper, Historiker, seit 2012 apl. Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld. Forschungen zur Wirtschafts- Finanz- und Verkehrsgeschichte mit Augenmerk auf die Zeit des Nationalsozialismus. Kopper legte unter anderem Studien zur Bankenpolitik des NS, eine Biographie Hjalmar Schachts, eine Untersuchung des Volkswagen-Konzern während der brasilianischen Militärdiktatur sowie eine Darstellung der Geschichte der Münchener Rückversicherungsgesellschaft vor. Er ist Mitglied des Auswahlausschusses der Studienförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Hanno Plass, Historiker, promovierte an der TU Berlin mit einer Studie zur Beteiligung südafrikanischer Jüdinnen und Juden am Kampf gegen die Apartheid. Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Studien- und Forschungsaufenthalte in London, Jerusalem, Johannesburg und Kapstadt. Er arbeitet als politischer Referent im Verbraucherschutz.
Die Veranstaltung findet hybrid statt: im Lesesaal des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden und online über Zoom. Um Anmeldung wird gebeten: kontakt@igdj-hh.de
Bitte geben Sie bei der Anmeldung an, ob Sie in Präsenz vor Ort oder Online über Zoom teilnehmen möchten.
Vertiefende Informationen zum Thema finden sich im jüngst erschienenen fünften Band der Publikationsreihe Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken – Erinnerungen an eine emanzipatorische Allianz.
Eine Kooperationsveranstaltung des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, der Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.