Negativer Nachmittag: ANTIIMP als Vorbild für postkoloniale Militanz? Berthold Brunner zu Stephanie Barts RAF-Roman „Erzählung zur Sache“
Vortrag und Diskussion wie immer mit Kaffee und Keksen in der HSB.
Vor 50 Jahren, im Herbst 1975, erarbeiteten die Stammheimer RAF-Gefangenen eine ausführliche „Erklärung zur Sache“, die sie am 13. und 14 Januar 1976 an zwei vollen Prozesstagen vortrugen. Dabei war der deutsche Antisemitismus als Ursache der Judenmorde schlichtweg kein Thema. Wohl aber wurde die US-„Reeducation“ als „Gehirnwäsche“ kritisiert, die gar eine „Dämonisierung des Faschismus“ betrieben habe. Insgesamt ist von der „Kolonisierung“ des deutschen Proletariats durch den US-Imperialismus die Rede, die durch gezielte Bombardements und gezielten Hunger durchgesetzt wurde – eine Einschätzung unter Berufung auf eine Definition Yassir Arafats.
Im vorgetragenen Weltbild wird Kapitalismus als weltweite Macht- und Gewaltausübung des „US-Imperialismus“, als Counterinsurgency definiert. Diese Machtmaschine gilt als gefährlich, tödlich, gilt letztlich als der eigentliche Faschismus. Zugleich aber wird sie in der Erklärung beschrieben wie ein tönerner Koloss, der reif sei, umgestoßen zu werden von der Gegengewalt u.a. der Stadtguerilla. Wie kommt dieses manichäische Weltbild zustande? Der Referent wird probehalber versuchen, es mit Moishe Postone als ein Denkmuster zu identifizieren, dessen Entwicklung sich aus den Schwächen des traditionellen Marxismus erklären lässt.
Im Mittelpunkt des Nachmittags soll aber Stephanie Barts 2023 erschienener Roman „Erzählung zur Sache“ stehen, der Gudrun Ensslins Wege als RAF-Aktive, wie auch als RAF-Gefangene von 1972 bis 1977 genau nachverfolgt. Das Buch wurde in Rezensionen der FAZ und der SZ hoch gelobt: Es sei von hoher Qualität, war zu lesen, und erinnere an Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“. Der Referent wird beim Negativen Nachmittag begründen, dass und warum er diese Bewertungen durchaus teilt. So ist die Überarbeitung der „Erklärung zur Sache“ in eine aktualisierende Fassung, die das Zentrum des Romans ausmacht, durchaus kunstfertig. Allerdings dienen, wie er zeigen möchte, alle literarischen Mittel dem Zweck, eine Traditionslinie von Antiimp- zu postkolonial gedachter Widerstandskultur zu propagieren: Ein Vorschlag, dem aus vielen guten Gründen nicht gefolgt werden sollte.
ZUR VORBEREITUNG sei die Lektüre der „Erklärung zur Gewaltfrage“
empfohlen, die Stephanie Bart im AK veröffentlichte:
https://www.akweb.de/.../raf-daniela-klette-stephanie.../
ALS QUELLEN dienen Stephanie Barts Roman, 2023 im Verlag Secession erschienen, sowie die „Erklärung zur Sache“ der Stammheimer RAF-Gefangenen; von dieser finden sich verschiedene Versionen leicht im Internet.
WEITERE HÖR- UND LESETIPPS: -Zur RAF hat eine Wiesbadener Gruppe eine interessante Podcast-Reihe erstellt, die thematisch auf die Erschießung des US-Gis Pimental durch die RAF zentriert ist:
https://open.spotify.com/show/2gNrqjwzFudD2ZyUjCWgMW...
Der Referent des NN hat 1996 zusammen mit Sven Kramer einen Aufsatz zu „kamalatta“, Christan Geisslers RAF-Roman veröffentlicht. Beim NN werden Kopien für Interessierte zur Verfügung.